Der französische Landschaftsarchitekt und Gärtner Gilles Clément würde an dieser Stelle von Kompliz*innen des Genies der Natur sprechen. In seinem Buch Gärten, Landschaft und das Genie der Natur erklärt er, dass alle Gärtner und Gärtnerinnen in ihren Gärten eine Beziehung zur Welt entwerfen. Dies kann nur in der Unterstützung der Natur gelingen und niemals im fälschlichen Glauben, sie beherrschen zu wollen. Das ist nicht bloß der Familie Raffeiner klar, sondern auch
Anna Gruber und Daniele Piscopiello von DA Genussgarten. Auf circa drei Hektar, zwischen Algund und dem oberen Vinschgau, betreiben sie auf gepachteten Flächen regenerative Landwirtschaft und bringen ihre Schätze einmal wöchentlich in ihrem Laden in Meran oder aber in praktischen Abo-Kisten zu ihren Kund*innen.
Als Paar im echten Leben und auf dem Feld entscheiden sich Anna und Daniele vor etwa zehn Jahren für die Selbstversorgung und beginnen mit dem biozertifizierten Gemüseanbau. Mit der Zeit bekommen auch faire und saisonale Schnittblumen einen immer wichtigeren Stellenwert bei DA Genussgarten. Vor allem Anna findet dadurch ihre Nische im Betrieb und leistet im Sinn der
globalen SlowFlower-Bewegung – also dem Anbau saisonaler und lokaler Schnittblumen ohne den Einsatz von Pestiziden und Herbiziden – in Südtirol definitiv Pionierarbeit: »Wenn ich bei den Blumen bin, dann nähren sie meine Seele, sie verbünden sich. Sie füllen meinen Akku und stehen mir zur Seite. Wie oft bin ich sehr aufgeregt in den Garten gekommen, weil ich dachte, ich hätte zu wenig Blumen. Die Blumen haben mich nie im Stich gelassen. Ich konnte vielleicht nicht das finden, was ich geplant hatte, wurde jedoch überrascht von etwas anderem. Die Natur ist Fülle, aus der man unendlich schöpfen kann.«
Und auch am anderen Ende der Stadt, im prächtigen Stadtviertel Obermais, entwirft eine Frau anhand von Gärten ihre Beziehung zur Welt:
Carmen Müller – Künstlerin, leidenschaftliche Gärtnerin, sowie selbstdeklarierte Gartenforscherin – verbringt nicht bloß gerne Zeit in ihrem eigenen Garten, sondern widmet ihre Kunstwerke und Ausstellungen immer wieder der Beobachtung von Gärten anderer. An ihnen erkennt sie den Geist einer Gärtnerin, eines Gärtners, eines Ortes. Und wieder führen die Gedanken zum eben erwähnten Gilles Clément, welcher den ersten Schritt zum Kompliz*innentum mit dem Genie der Natur, in der Beobachtung dessen sieht. Dass die Meraner Gegend eine Person bereithält, die aus dieser Beobachtung heraus sogar Kunst schafft, kann Clément sich wohl kaum erträumen. Dabei liegt die Besonderheit dieser sensiblen Person und ihrer einzigartigen Kunstwerke in ihrer Fähigkeit, alles Schöne der Blumen- und Gartenwelt einzufangen. Geschossener Salat oder ein Beet voller Franzosenkraut – von vielen (fälschlicherweise) als Unkraut bezeichnet – sind für Carmen Müller nämlich nicht unästhetischer als eine Pfingstrose oder ein Beet voller Dahlien: »Pflanzen im allgemeinen und besonders Blumen sind für meine künstlerische Forschung eine unendliche Quelle der Inspiration. Blumen im Raum – Balsam für die Seele«, erklärt sie fröhlich.
Unendliche Quelle der Inspiration für die künstlerische Forschung
Dieser besondere Blick auf alles, was blüht und gedeiht, ist bei Weitem keine Selbstverständlichkeit und beweist einmal mehr, dass wahre Wertschätzung gegenüber der Natur durch unmittelbare Nähe und Beziehung zu dieser entsteht. Carmen Müller hat in diesem Fall einen gewaltigen Vorteil: Zusätzlich zu den Erfahrungen im eigenen Garten kann sie mit einem kurzen Spaziergang die berühmten
Gärten von Schloss Trauttmansdorff erreichen. Hier, wo Kaiserin Elisabeth (für Meraner*innen casual Sisi) einst mit ihrem Hofstaat residierte, um von der sonnigen Kurstadt zu profitieren, wurde 2001 ein botanischer Garten eröffnet, der sich heute über ganze zwölf Hektar erstreckt. Unzählige internationale Preise haben diese Gärten seitdem erhalten und unaufhörlich strömen Besucher*innen durch ihre Tore, um die verschiedenen Pflanzenwelten zu entdecken. Denn Meran macht es möglich, alpine Nadelbäume unweit von exotischen Sukkulenten zu pflanzen. Es ist dem Menschen daher physisch unmöglich, diese Gärten schlecht zu finden. Egal welche Saison, egal ob Baum, Strauch oder Blüte, irgendeine Entdeckung ist für jede*n dabei. Genie der Natur eben, mit kleiner, menschlicher Unterstützung. Und Sisi? Die liebte Veilchen. So sehr, dass sie auch auf Diät oftmals nur Veilcheneis aß.
Während ihres Aufenthalts in Südtirol, in Meran, unternahm die Kaiserin auch die ein oder andere Reise ins nahegelegene Ultental, das bei Lana in den Meraner Talkessel mündet. Dafür waren die heilenden Bäder von Mitterbad bei St. Pankraz wohl ebenso verantwortlich wie die Betreuung durch den österreichischen Arzt und Philosophen Christoph Hartung von Hartungen, der im hinteren Ultental bei St. Nikolaus eine Sommervilla besaß. Ebenfalls in St. Nikolaus geboren und aufgewachsen ist die
Visionärin Waltraud Schwienbacher. Nach jahrelanger Erfahrung als Bäuerin initiiert die passionierte Naturbeobachterin diverse mutige Projekte, unter denen die
Winterschule Ulten wohl als bekanntestes gilt. Ausgezeichnet mit dem Goldenen Verdienstkreuz des Landes Tirol und dem Prize of Women’s Creativity in Rural Life ist Waltraud durch ihre Leidenschaft für die Themen Kräuter, Gesundheit und Wollverarbeitung angetrieben. Ihr Ziel? Naturnahe Traditionen ihrer Heimat zu bewahren und dadurch auch Arbeitsplätze für Bäuerinnen und Bauern des Tals zu schaffen. 1993 mit einer Handvoll Teilnehmer*innen gestartet, erhält die Winterschule heute Hunderte von Anmeldungen, die auch über die Südtiroler Landesgrenzen hinausreichen. Alpine Kräuterkunde, Drechseln und noch viele weitere Kurse können glückliche Teilnehmer*innen hier besuchen.
Ganz besonders passend, um das Auge (und das Herz) für alle Blumen dieser Erde zu begeistern: der Kurs für Wildblumenfloristik. Besucher*innen des Kurses stimmen Rilke spätestens nach drei Jahren Ausbildung zu, dass Rosen manchmal wichtiger sind als ein Stück Brot. Und auch alle anderen, in dieser blumigen Bestandsaufnahme von Meran und Umgebung erwähnten Menschen, hätten sich bestimmt prächtig mit ihm verstanden, damals in Meran, und auch wenn er schreibt »Ich will ein Garten sein«.
(Story aus dem Merano Magazin 1/2024)