Ich wil ein Garten sein
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Ich wil ein Garten sein

In 80 Blumen um die Welt

Rainer Maria Rilke war nur eine der vielen Persönlichkeiten zu Besuch im beliebten Kurort Meran. Neben der guten Luft und den heilenden Thermalbädern genoss der Dichter mit einem Sinn für alles Schöne und Lebendige wohl auch die einzigartige Mischung aus alpiner und mediterraner Flora, welche den Meraner Talkessel seit jeher zu einem ganz besonderen Fleckchen Erde macht. Ganz bestimmt sogar, war er es doch, der behauptete: »Es gibt Augenblicke, in denen eine Rose wichtiger ist als ein Stück Brot.« Und Franz Tappeiner, dessen Namen bei einem Besuch in Meran nicht übersehen werden kann? Er nahm Rilke beim Wort und legte seine Studien und Recherchen im Bereich der Medizin für einige Zeit auf Eis, nur um Tausende von Pflanzen zu sammeln, sie zu katalogisieren und Herbarien anzufertigen, während er sich bloß von Milch und Brot ernährte.

Dieser berühmte Arzt, Botaniker und Anthropologe aus Laas im Vinschgau ließ sich nach seinen Studien in Padua, Wien und Prag in Meran nieder, wo er nicht bloß den Scharen heilungssuchender VIPs innovative Kuren anbot, sondern der Bevölkerung als Arzt und Visionär zur Seite stand. Last but not least, ließ er aus eigener Tasche den heute noch beliebten Tappeinerweg errichten, eine der schönsten Promenaden der Stadt, gekennzeichnet durch eine üppige und vor allem mediterrane Vegetation. Die Biodiversität entlang des Tappeinerweges ist bemerkenswert und zusätzlich zum wunderschönen Ausblick ein botanischer Lehrpfad. Den Baumbestand verwaltet die Stadtgärtnerei übrigens über ein digitales, offen einsehbares Baumkataster.

In 80 Blumen um die Welt

Der Anfang der etwa drei Kilometer langen Promenade liegt im alten Stadtviertel Gratsch. Hier hat sich auch Elisabeth Kössler mit ihrem Projekt PflanzGutes niedergelassen und widmet ihr Leben allem Blühenden und Gedeihenden. »Blumen haben eine große Bedeutung für mich: Sie bringen Lebendigkeit, Freude und öffnen mein Herz, sind Insektenmagnet und dekorieren mein Haus und auch meine Speisen, nicht zu vergessen die ganzen Blüten in meinen Kräutertees«, erzählt sie. Auf etwas weniger als einem Hektar führt die gebürtige Bayerin einen Permakulturgarten, in dem sie viele heimische Pflanzen, teilweise auch vergessene Kultursorten, kultiviert, um später deren biozertifiziertes, samenfestes Saatgut zu verkaufen. Ein politischer Akt, sind doch allein in Südtirol 27 Prozent der Pflanzenarten gefährdet. Außerdem stellt die Vermehrung von samenfestem Saatgut eine friedliche Resistenz zu überzüchteten Hybridsorten dar: Samenfest bedeutet nämlich, dass aus der Pflanze, die dem Samen entspringt, wiederum Samen (und somit Pflanzen) gewonnen werden können. Ein endloser und natürlicher Kreislauf, der bei hybriden Sorten – den meisten auf dem globalen, kommerziellen Markt erhältlichen Samen – nicht gegeben ist, da diese ein sehr instabiles Erbgut aufweisen und somit nicht für eine lange Lebensdauer gedacht sind.

Der italienische Philosoph Emanuele Coccia behauptet in seinem Werk Die Wurzeln der Welt – eine Philosophie der Pflanzen: »Was die Welt ist, müssen wir von den Pflanzen erfragen – denn eben sie machen Welt.« In der Blüte, also jenem Teil der Pflanze, der für die Fortpflanzung zuständig ist und von Coccia als kosmischer Attraktor zum Einfangen der Welt deklariert wird, sieht er die Verschmelzung der Pflanze mit dem Rest der Welt und somit ihrem weltoffenen Apparat der Erfahrung, von dem wir Menschen lernen können. Stets im Meraner Raum, um genau zu sein im kleinen Örtchen Gargazon, hat eine Familie  hr Leben eben diesen blumigen Lehrmeistern gewidmet.

Auf über 6.000 Quadratmetern präsentieren Valtl Raffeiner und seine Familie im Gartenbau Raffeiner über 500 verschiedene Orchideen und etliche Grünpflanzen. Kein herkömmlicher Gartenmarkt, bedenkt man, dass der Betrieb den meisten eher als Orchideenwelt bekannt ist. Eine wahrhaftige Welt zum Leben und Erleben wurde hier geschaffen, in der vor allem die Orchideen Welt machen und damit jährlich Tausende von Besucher*innen verzaubern. Und wer sich nun fragt, was die ursprünglich im Dschungel beheimatete Orchidee in einem (durch erneuerbare Energien und Regenwasser angetriebenen) Gewächshauskomplex in den Alpen zu suchen hat, kann beruhigt sein: Orchideen gehören zu den ältesten Blumen der Welt und haben daher nicht bloß einen gewaltigen Stammbaum aus Farben und Formen entwickelt, sondern auch die ein oder andere Reise hinter sich. Einige von ihnen haben es sich sogar im Himalaya-Gebirge gemütlich gemacht.
Eine Blume, ein Garten, ein Blick auf die Welt
Der französische Landschaftsarchitekt und Gärtner Gilles Clément würde an dieser Stelle von Kompliz*innen des Genies der Natur sprechen. In seinem Buch Gärten, Landschaft und das Genie der Natur erklärt er, dass alle Gärtner und Gärtnerinnen in ihren Gärten eine Beziehung zur Welt entwerfen. Dies kann nur in der Unterstützung der Natur gelingen und niemals im fälschlichen Glauben, sie beherrschen zu wollen. Das ist nicht bloß der Familie Raffeiner klar, sondern auch Anna Gruber und Daniele Piscopiello von DA Genussgarten. Auf circa drei Hektar, zwischen Algund und dem oberen Vinschgau, betreiben sie auf gepachteten Flächen regenerative Landwirtschaft und bringen ihre Schätze einmal wöchentlich in ihrem Laden in Meran oder aber in praktischen Abo-Kisten zu ihren Kund*innen.

Als Paar im echten Leben und auf dem Feld entscheiden sich Anna und Daniele vor etwa zehn Jahren für die Selbstversorgung und beginnen mit dem biozertifizierten Gemüseanbau. Mit der Zeit bekommen auch faire und saisonale Schnittblumen einen immer wichtigeren Stellenwert bei DA Genussgarten. Vor allem Anna findet dadurch ihre Nische im Betrieb und leistet im Sinn der globalen SlowFlower-Bewegung – also dem Anbau saisonaler und lokaler Schnittblumen ohne den Einsatz von Pestiziden und Herbiziden – in Südtirol definitiv Pionierarbeit: »Wenn ich bei den Blumen bin, dann nähren sie meine Seele, sie verbünden sich. Sie füllen meinen Akku und stehen mir zur Seite. Wie oft bin ich sehr aufgeregt in den Garten gekommen, weil ich dachte, ich hätte zu wenig Blumen. Die Blumen haben mich nie im Stich gelassen. Ich konnte vielleicht nicht das finden, was ich geplant hatte, wurde jedoch überrascht von etwas anderem. Die Natur ist Fülle, aus der man unendlich schöpfen kann.«

Und auch am anderen Ende der Stadt, im prächtigen Stadtviertel Obermais, entwirft eine Frau anhand von Gärten ihre Beziehung zur Welt: Carmen Müller – Künstlerin, leidenschaftliche Gärtnerin, sowie selbstdeklarierte Gartenforscherin – verbringt nicht bloß gerne Zeit in ihrem eigenen Garten, sondern widmet ihre Kunstwerke und Ausstellungen immer wieder der Beobachtung von Gärten anderer. An ihnen erkennt sie den Geist einer Gärtnerin, eines Gärtners, eines Ortes. Und wieder führen die Gedanken zum eben erwähnten Gilles Clément, welcher den ersten Schritt zum Kompliz*innentum mit dem Genie der Natur, in der Beobachtung dessen sieht. Dass die Meraner Gegend eine Person bereithält, die aus dieser Beobachtung heraus sogar Kunst schafft, kann Clément sich wohl kaum erträumen. Dabei liegt die Besonderheit dieser sensiblen Person und ihrer einzigartigen Kunstwerke in ihrer Fähigkeit, alles Schöne der Blumen- und Gartenwelt einzufangen. Geschossener Salat oder ein Beet voller Franzosenkraut – von vielen (fälschlicherweise) als Unkraut bezeichnet – sind für Carmen Müller nämlich nicht unästhetischer als eine Pfingstrose oder ein Beet voller Dahlien: »Pflanzen im allgemeinen und besonders Blumen sind für meine künstlerische Forschung eine unendliche Quelle der Inspiration. Blumen im Raum – Balsam für die Seele«, erklärt sie fröhlich.

Unendliche Quelle der Inspiration für die künstlerische Forschung

Dieser besondere Blick auf alles, was blüht und gedeiht, ist bei Weitem keine Selbstverständlichkeit und beweist einmal mehr, dass wahre Wertschätzung gegenüber der Natur durch unmittelbare Nähe und Beziehung zu dieser entsteht. Carmen Müller hat in diesem Fall einen gewaltigen Vorteil: Zusätzlich zu den Erfahrungen im eigenen Garten kann sie mit einem kurzen Spaziergang die berühmten Gärten von Schloss Trauttmansdorff erreichen. Hier, wo Kaiserin Elisabeth (für Meraner*innen casual Sisi) einst mit ihrem Hofstaat residierte, um von der sonnigen Kurstadt zu profitieren, wurde 2001 ein botanischer Garten eröffnet, der sich heute über ganze zwölf Hektar erstreckt. Unzählige internationale Preise haben diese Gärten seitdem erhalten und unaufhörlich strömen Besucher*innen durch ihre Tore, um die verschiedenen Pflanzenwelten zu entdecken. Denn Meran macht es möglich, alpine Nadelbäume unweit von exotischen Sukkulenten zu pflanzen. Es ist dem Menschen daher physisch unmöglich, diese Gärten schlecht zu finden. Egal welche Saison, egal ob Baum, Strauch oder Blüte, irgendeine Entdeckung ist für jede*n dabei. Genie der Natur eben, mit kleiner, menschlicher Unterstützung. Und Sisi? Die liebte Veilchen. So sehr, dass sie auch auf Diät oftmals nur Veilcheneis aß.

Während ihres Aufenthalts in Südtirol, in Meran, unternahm die Kaiserin auch die ein oder andere Reise ins nahegelegene Ultental, das bei Lana in den Meraner Talkessel mündet. Dafür waren die heilenden Bäder von Mitterbad bei St. Pankraz wohl ebenso verantwortlich wie die Betreuung durch den österreichischen Arzt und Philosophen Christoph Hartung von Hartungen, der im hinteren Ultental bei St. Nikolaus eine Sommervilla besaß. Ebenfalls in St. Nikolaus geboren und aufgewachsen ist die Visionärin Waltraud Schwienbacher. Nach jahrelanger Erfahrung als Bäuerin initiiert die passionierte Naturbeobachterin diverse mutige Projekte, unter denen die Winterschule Ulten wohl als bekanntestes gilt. Ausgezeichnet mit dem Goldenen Verdienstkreuz des Landes Tirol und dem Prize of Women’s Creativity in Rural Life ist Waltraud durch ihre Leidenschaft für die Themen Kräuter, Gesundheit und Wollverarbeitung angetrieben. Ihr Ziel? Naturnahe Traditionen ihrer Heimat zu bewahren und dadurch auch Arbeitsplätze für Bäuerinnen und Bauern des Tals zu schaffen. 1993 mit einer Handvoll Teilnehmer*innen gestartet, erhält die Winterschule heute Hunderte von Anmeldungen, die auch über die Südtiroler Landesgrenzen hinausreichen. Alpine Kräuterkunde, Drechseln und noch viele weitere Kurse können glückliche Teilnehmer*innen hier besuchen.

Ganz besonders passend, um das Auge (und das Herz) für alle Blumen dieser Erde zu begeistern: der Kurs für Wildblumenfloristik. Besucher*innen des Kurses stimmen Rilke spätestens nach drei Jahren Ausbildung zu, dass Rosen manchmal wichtiger sind als ein Stück Brot. Und auch alle anderen, in dieser blumigen Bestandsaufnahme von Meran und Umgebung erwähnten Menschen, hätten sich bestimmt prächtig mit ihm verstanden, damals in Meran, und auch wenn er schreibt »Ich will ein Garten sein«.

(Story aus dem Merano Magazin 1/2024)