Nach einer Stunde komme ich an die Abzweigung zum Stabener Waalweg, steige hinunter und laufe ihn als Rundweg wieder zurück zum
Schloss Juval. Kein Punkt entlang des Weges, von dem man keinen
grandiosen Blick in den Vinschgau und das Meraner Land hat.
Die Sonne wandert immer weiter in den Westen und taucht das Tal in ein warmes, mattes Licht. Naturns ist immer schön, aber im Herbst liebt man es bis zur Ektase.
Nach einer Dreiviertelstunde stehe ich wieder unterhalb von
Schloss Juval und blicke hinüber zum
Klettersteig Hoachwool. Wo heute Kraxler an Stahlseilen gesichert ihre Fähigkeiten und ihren Mut auf die Probe stellen, verlief einst der
gefährlichste Abschnitt des Naturnser Waals. In aufwendiger Arbeit wurden mit einfachsten Arbeitsgeräten Eisenstangen in den Fels gedrillt, um daran
Holzkanäle zu befestigen, die das Wasser vom
Schnalstal nach Naturns transportieren sollten. Bis heute erkennt man letzte Überreste dieser Konstruktion an den Felsen. Um diesen Teil zu warten, musste der Waaler in
schwindelerregender Höhe durch Felswände klettern und über Steige balancieren, die kaum Halt boten. Die Arbeit war gnadenlos – wer stürzte, stürzte tief.
Um die Gefahr zumindest irgendwie zu mindern, wurden für diesen Abschnitt zwei Waaler berufen. Die einzigen Auswahlkriterien: ein fester Tritt und absolute Schwindelfreiheit. Heute würde man sie wohl Teufelskerle nennen. Im alten Rom gab es einen Spruch: „
Wo die Natur nicht will, ist die Arbeit umsonst.“ Ich lächle. Schaue hinüber zur Wallburg, an deren Hängen sich das nächste Netz an Waalen verästelt. Schaue hinauf in den Vinschgau, in einigen Apfelanlagen drehen sich die Beregnungsanlagen, gespeist vom Wasser der althergebrachten Waale.
Die alten Römer haben wohl nicht mit dem Eifer und der Entschlossenheit der Südtiroler gerechnet.