☛ Violinist, Komponist, Dirigent

 
Der 1966 in Genua geborene Musiker schreibt auch Filmmusik und ist seit kurzem mit Begeisterung als Schauspieler tätig. Neben seiner Muttersprache spricht er auch Deutsch, Englisch sowie Französisch und beherrscht den Genueser und Südtiroler Dialekt. Der Vater von drei Kindern lebt seit über 30 Jahren in Meran. 1999 gründet er das „Conductus Ensemble“, er ist künstlerischer Leiter der Musikveranstaltungen von „Kunst Merano Arte“. Das Festival „Sonora“ ist ein Conductus-Projekt unter seiner künstlerischen Leitung – in Zusammenarbeit mit „Kunst Meran“, mit der Musikschule Meran in deutscher und ladinischer Sprache sowie mit „Windkraft – Kapelle für Neue Musik“.
Marcello Fera, vom Meer in die Berge. Sie sind in Genua aufgewachsen. Schildern Sie uns einige Ihrer ersten Eindrücke, von Architektur, Atmosphäre, Natur und Kultur Merans?

Ich war stark beeindruckt von der bemerkenswerten Architektur in Meran sowie in ganz Südtirol zu Beginn der 1990er Jahre; es war für mich wirklich etwas Außergewöhnliches und Einzigartiges. Zudem faszinierte mich, wie groß in dieser Provinz das kulturelle Interesse – die Begeisterung für Kultur im Allgemeinen und für Musik im Besonderen – ist.


Sie sprechen den Genueser Dialekt, also Zenéize, eine ligurische Sprache, die heute vor allem von älteren Menschen in Genua noch gesprochen wird und sogar die im Italienischen unbekannten Umlaute kennt. Als Kind, mit den Freunden oder in der Familie, sprachen Sie da Zenéize?

In Genua ist der Dialekt aus verschiedenen Gründen fast ausgestorben oder zumindest stark zurückgegangen. Ich hatte jedoch das Glück, ihn von älteren Verwandten zu lernen, bei denen ich als Kind oft war. Diese Verwandten sprachen fast ausschließlich im Dialekt, und durch mein aufmerksames und neugieriges Ohr konnte ich diesen somit erlernen. Zudem hat das Genuesische eine lange schriftliche Tradition und eine echte Literatur, da es seit Jahrhunderten als Schriftsprache verwendet wird.


Inwiefern spielen die von Ihnen gesprochenen Sprachen bei Ihrer Musik eine Rolle?

Ich habe darüber noch nie nachgedacht, aber ich vermute, dass ein feines Ohr für die Nuancen und Variationen der Aussprache einen phonologischen Schatz schafft, der in der Musik wichtige Entsprechungen findet. Musik ist zwar keine Sprache, da sie keine Bedeutungen ausdrückt, aber sie teilt viele Gemeinsamkeiten mit der Sprache im Bereich des Klangs, der entscheidend dafür ist, was vermittelt werden soll. Das, was eine Frage, eine Feststellung, Ironie, Traurigkeit, Aufregung oder andere Stimmungen in Worten ausmacht, findet sich auch in der Musik wieder und kann ähnliche Wirkungen hervorrufen. Darüber hinaus kann eine große Vertrautheit mit verschiedenen Sprachen das Verständnis der metrischen Struktur eines Textes, der für Musik und Gesang geeignet ist, erleichtern.


Sie sprechen von Ihrer Arbeit als einer „Verwirklichung einer eigenen Landschaft“, in der Sie „sich identifizieren und wohlfühlen können“, und davon, dass „die Musik, die ich geliebt habe, die Musik, die ich entdecke, der Wunsch nach dem, was ich gerne hätte, aber nicht ist“, die Werkzeuge Ihrer Arbeit sind. Gibt es von Ihnen kreierte musikalische Landschaften, worin Sie sich besonders wohlfühlen? Wenn ja, welche?

Durch viele Jahre der intensiven Zusammenarbeit mit dem Ensemble Conductus haben die Musiker ein tiefes Verständnis für meine Musik entwickelt und wissen genau, wie sie diese interpretieren müssen. Das ist ein großes Privileg, das wir gemeinsam aufgebaut haben. Wenn ich mit anderen Musikern arbeite, auch wenn sie exzellent sind, muss ich oft viel mehr erklären, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Das gehört ebenfalls zu dem „Arbeits- und menschlichen Umfeld“, das ich mir erschaffen habe. Dies betrifft auch unsere spezielle und zugleich effiziente und bereichernde Arbeitsweise. Musikalisch gesehen gibt es viele Werke und Projekte, die für mich eine besondere Bedeutung haben. In meinen letzten drei Alben („String Theory“, „Bellanöva“ und „Piccoli Arcani“) lassen sich diese Klanglandschaften, die mir am Herzen liegen und die ich geschaffen habe, sehr gut erkennen. Grundsätzlich muss die Musik, die mich interessiert, Energie übertragen. Diese „Energie“ verstehe ich als die universelle Intelligenz, die dem Leben zugrunde liegt. Der Komponist, wie jeder andere Künstler, dient als Medium, durch das sich diese Intelligenz ausdrückt. Es ist unwichtig, ob jeder Künstler seine eigenen, einzigartigen Formen verwendet, um diese Ausdrucksweise zu finden. Ich habe den Wunsch verspürt, meinen eigenen Ausdrucksweg zu finden, und später erkannte ich, dass dieses Verlangen damit übereinstimmte, ein guter Kanal für die Manifestation dieser Intelligenz zu sein.
Seit kurzem schauspielern Sie und sind in „Lubo“ von Giorgio Diritti zu sehen. Hauptdarsteller war Franz Rogowski, der einen jenischen Straßenkünstler in den 1930er und 1940er Jahren in der Schweiz darstellt, dem das „Hilfswerk für die Kinder der Landstraße“ (das hieß wirklich so) mit Hilfe der Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 und 1972 die Kinder raubte. Das Ziel war die komplette Umerziehung. Was fasziniert Sie an dem Stoff und: Finden wir heute ähnliche Verbrechen in anderem Kleid, auch in Europa?

Der Film von Giorgio Diritti ist außergewöhnlich. Er schildert diese furchtbare Realität durch eine eigene Form der Erzählung, indem er die Lebensgeschichte eines Mannes mit der Präzision eines Dokumentarfilms nacherzählt. Der Film informiert auf eine poetische Weise, die den Zuschauer weder schockiert noch deprimiert, sondern ihn über einen historischen Horror aufklärt. Ja, ich glaube, dass wir auch heute noch viele schreckliche und kriminelle Dinge erleben. Der Nomadismus wurde als soziale Krankheit betrachtet – die Grundlage für das ethnische Säuberungsprojekt „Straßenkinder“, über das der Film berichtet. Immer wenn wir unkritisch davon ausgehen, dass unsere Werte die einzigen richtigen sind, sind wir Teil und Akteure der gleichen Logik.


Und was begeistert Sie an der Schauspielerei?

Ich finde es äußerst einfach und natürlich. Die völlige Freiheit von professionellen und marktwirtschaftlichen Anforderungen, die mich in der Musik oft beeinflussen, schenkt mir eine angenehme Leichtigkeit und ein Gefühl der Unbeschwertheit.


Im Film sieht man Sie reiten. Hatten Sie vorher schon Reiterfahrung?

Ich habe als Kind das Reiten gelernt und es immer sehr genossen, auch wenn ich in letzter Zeit nicht mehr oft dazu komme. Vor einigen Jahren habe ich auch Tango tanzen gelernt und dabei festgestellt, dass es eine interessante Parallele zum Reiten gibt. Beide Aktivitäten – als Reiter ebenso wie als Tanzpartner – leben von einer subtilen und komplexen Wechselwirkung. Der Tanz ist eine Art von Dialog, welcher nicht hierarchisch ist, sondern eine harmonische Verbindung schafft. Ähnlich ist es beim Reiten: Das Pferd reagiert auf die Impulse des Reiters und reflektiert diese, was eine faszinierende und elegante Kommunikation ermöglicht.


Eva Kuen, Schauspielerin aus Meran, hat auch mitgewirkt. An welche Drehorte reisten Sie? Gab es gemeinsame Drehtage?

Leider habe ich Eva Kuen am Set nicht getroffen, obwohl wir uns kennen. Die Szenen, an denen ich beteiligt war, wurden in Neumarkt und in der Umgebung von Aldein gedreht.


Zurück zu Meran und seiner Musik. 2017 sagten Sie: „Die Musik Merans ist eine Operette, die erst noch komponiert werden muss. Ohne Husaren und ohne Prinzessinnen“. Wie steht es damit? Gibt es Ansätze zu dieser Operette? Oder Stücke von Ihnen, die das heutige Meran einfangen?

Die Bemerkung war eine liebevoll-ironische Metapher für den Charakter dieser Stadt. Es war die Antwort auf die Frage, welche Musik, welches musikalische Werk Meran am besten repräsentiere. Aufgrund seiner Geschichte und der prägenden Merkmale seiner städtischen Ästhetik entspricht Meran dem Flair der Wiener Operette des 19. Jahrhunderts. Heute gibt es jene Gesellschaft, die Meran auf diese Weise geprägt hat – also Husaren und Prinzessinnen – nicht mehr. Daher ist es die Aufgabe der Menschen, die hier und heute in Meran leben, die spezielle Atmosphäre dieser Stadt neu zu interpretieren, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. In diesem Sinne ist es erforderlich, eine neue Musik zu schaffen.


Mit Sonora drehte sich alles um die Ausstellung „Imagine Wor(l)ds“ im Kunsthaus Meran und damit indirekt auch um das Heldenepos Nibelungensaga. Innerhalb der Bildenden Kunst stellte das Thema bereits das Kunsthaus vor große Herausforderungen. Wie war es, sich mit der Nibelungensaga, oder den von Ihnen bestimmten Kernthemen, die sich daraus ergaben, musikalisch auseinanderzusetzen?

Musik lässt sich zwar nie auf eindeutig festgelegte Bedeutungsfelder reduzieren, dennoch ist sie stets im Kontext der sie umgebenden Gesellschaft verwurzelt, von der Geschichte, den Gedanken und dem Leben der Menschen geprägt. Es bereitet mir Freude, Verbindungen zwischen der Klangwelt und Ideen zu schaffen. Dies ist sowohl anregend als auch herausfordernd, und es ermöglicht es den Zuhörern, die Musik auf eine Weise zu erfahren, die Neugier hervorruft und zur Reflexion anregt. Die Bearbeitung der Nibelungensaga bot mir beispielsweise die Gelegenheit, Wagners besondere Verbindung zum Mittelmeer zu thematisieren und das legendäre Treffen mit Rossini im Jahr 1860 zu vertonen, welches beinahe als Wagners Antithese angesehen werden kann.


Was ist Merans größte Schwierigkeit, seine Achillesferse?

Eine der größten Herausforderungen für Meran besteht vielleicht darin, ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen des Tourismus, dem Bauwesen und der Lebensqualität seiner Bürger zu finden. Dies betrifft nicht nur Meran, sondern viele Städte. Oft wird übersehen, dass Wirtschaftlichkeit und Lebensqualität nicht immer deckungsgleich sind. Manchmal ist es erforderlich, mit Weitsicht über den unmittelbaren finanziellen Nutzen hinauszublicken, um längerfristig das Wohl der Menschen und die Schönheit der Stadt zu erhalten.


Und seine schönste Seite?

Ein Vorteil Merans liegt in der gelungenen Koexistenz aus kleinstädtischem Charme und urbanen Annehmlichkeiten. In diesem Sinne überzeugt die Kurstadt vor allem durch das reichhaltige kulturelle Angebot. Zudem ist Meran aber auch eingebettet in eine Natur, die einerseits Kulturlandschaft, andererseits sehr ursprünglich ist. All dies bringt eine angenehme Lebensweise in einer Stadt von überschaubarer Größe mit sich, was wiederum für eine gewisse Ausgewogenheit und Konzentration auf das Wesentliche sorgt.


September 2024